Es ist noch nicht lange her, da galten Businessnetzwerke als digitale Orte des Fachdialogs. Menschen tauschten sich über Innovationen, Strategien, neue Technologien aus. Heute muten manche dieser Plattformen eher an wie eine Mischung aus Marktschreier-Gasse und Stammtisch.
Fachwissen war gestern – heute zählt Sichtbarkeit
Statt fachlicher Diskussionen dominiert vielerorts ein anderes Muster: Es geht weniger um Erkenntnisgewinn als darum, die eigene Dienstleistung oder das neueste Produkt in den Vordergrund zu rücken – oft unter jedem nur denkbaren Beitrag, ob passend oder nicht. Unter einem fundierten Fachbeitrag zu künstlicher Intelligenz findet sich dann schon mal die wiederholte Versicherung eines Beraters, warum gerade seine Services in dieser herausfordernden Zeit „unerlässlich“ seien. Die Hemmschwelle, Themen zu kapern, sinkt – Hauptsache Sichtbarkeit.
Die Geburt der Bauchfrei-Debatte
Besonders auffällig ist ein Phänomen, das man als „Aufmerksamkeitsdefizit im Endstadium“ bezeichnen könnte: Wer keine eigene Expertise einzubringen hat, wirft beliebige Fragen in den Raum, die zuverlässig Klicks und Kommentare generieren. Beispiel: „Darf man bauchfrei ins Büro kommen?“ Zwischen empörten Ausrufen und romantisierenden Kommentaren über „authentische Arbeitskultur“ entfaltet sich dann eine rege Diskussion, die selten Erkenntnis, aber stets viel Reichweite bringt.
Rechtschreibfehler als letztes Aufbäumen
Wenn die Argumente ausgehen, wird die Diskussion nicht selten auf Rechtschreibfehler gelenkt – ein letzter, verzweifelter Versuch, sich moralisch zu überhöhen. Was dabei verwundert: Offenbar schreckt es wenige, wenn sie sich auf offener Plattform blamieren. Die Angst, der eigene Auftritt könnte Rückschlüsse auf die gelebte Unternehmenskultur zulassen, scheint erstaunlich gering.
Empörung und Emotionen als Interaktionsmotor
Auch die beliebte Disziplin des „Elektroauto-Bashings“ oder „Bahn-Bashings“ funktioniert prächtig: Algorithmen lieben Emotionen. Beiträge, die das Mobilitätsverhalten anderer in Frage stellen oder Verspätungen der Bahn anprangern, erzielen zuverlässig hohe Interaktionsraten. Der Mechanismus ist einfach: Wut wird gelesen. Wut wird geteilt. Wut wird verstärkt.
Weitere Themen, die derzeit hohe virale Potenziale zeigen:
- Empörungswellen rund um Gender-Formulierungen
- Anekdoten über toxische Führung („Mein Chef hat mich angeschrien – ich habe gekündigt!“)
- Hochglanz-Postings von „Selfmade“-Unternehmern, die früh aufstehen, kalt duschen und dem Leser zwischen den Zeilen zurufen: „Du bist selbst schuld, wenn du scheiterst.“
- Heroische Selbstbeweihräucherungen („Ich habe drei Jobs, ein Kind und einen Hund – und trotzdem Zeit für Yoga!“)
- Posts im Stil von „Heute vor fünf Jahren war ich am Boden – jetzt bin ich CEO“
- Offene Briefe an unbekannte Mitarbeitende respektive CEOs von Weltkonzernen
Insgesamt entsteht das Bild einer Businesswelt, in der Aufmerksamkeit, nicht Substanz, die Hauptwährung geworden ist. Fachliche Tiefe bleibt die Ausnahme. Der Algorithmus belohnt nicht Erkenntnis, sondern Interaktion.
Es bleibt zu hoffen, dass einige Plattformen den Mut finden, dem etwas entgegenzusetzen – durch Algorithmen, die echte Expertise erkennen, und durch eine Kultur, die Diskussionen fördert, nicht nur Selbstinszenierungen.
Sonst bleibt am Ende nur der Lärm.
Illustration: thepublishergang.com